Offener Brief an den Regierenden Bürgermeister Berlins Herrn Kai Wegner

Unterstützung von Kriegsverletzten aus der Ukraine im Rahmen des Kleeblatt-Verfahrens

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

wir sind eine ehrenamtliche Initiative aus Berlin, die kriegsverletzte Menschen aus der Ukraine, die im Rahmen des Kleeblatt-Verfahrens in Berliner Krankenhäusern behandelt werden, unterstützt.

Wir sind sehr erfreut über Ihre Ankündigung, mehr Kriegsverletzte in Berlin aufzunehmen. Wir möchten Ihnen und dem Land Berlin im Namen der ukrainischen Kriegsverletzten einen großen Dank für Ihre Solidarität und Anteilnahme mit Menschen aus der Ukraine aussprechen.

Mit diesem Brief möchten wir gleichzeitig auf die Herausforderungen, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus entstehen, aufmerksam machen und Sie um die Unterstützung für ukrainische Kriegsverletzte auch nach der ersten Behandlung im Krankenhaus bitten.

Die komplexen Verfahrens- und Zuständigkeits-Regelungen in den Berliner Sozialbehörden stellen die schwerverletzten Menschen vor vielen großen Hürden. Ihre Weiterbehandlung, Genesung, Unterbringung und Versorgung sind nur mithilfe der tatkräftigen Unterstützung von einer kleinen Gruppe Ehrenamtlicher in Berlin möglich. Beispielsweise initiieren wir ihre Registrierung nach § 24 AufenthG, füllen die notwendigen Anträge aus, begleiten Kriegsverletzte nach ihrer Entlassung bei Behördengängen und dolmetschen bei Arztgesprächen.

Wer verletzt nach Berlin kommt, muss sich sofort um die Registrierung und die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen bemühen. Dies ist die Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG. Dieser Prozess dauert drei bis sechs Monate. Erst danach ist die Person berechtigt, Sozialleistungen zu erhalten. Persönliches Erscheinen ist bei der Antragsstellung nach SGB II Pflicht. Dies ist allerdings für die überwiegende Mehrheit der Verletzten aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen und starker Schmerzen nur unter unzumutbarer Anstrengung oder gar nicht möglich (bspw. für gelähmte Patienten).

Bevor man den Antrag auf Leistungen nach SGB II stellt, muss man persönlich eine Mitgliedsbestätigung bei der Krankenversicherung einholen und beim Jobcenter vorlegen. Beim persönlichen Erscheinen beträgt die Wartezeit beim Jobcenter oft zehn Stunden und mehr. Erst nachdem der Antrag bewilligt wurde, erlangt der Kriegsverletzte eine gesetzliche Krankenversicherung, die für die weitere Behandlung und medizinische Maßnahmen wie Reha und Folge-OPs unabdinglich ist.

Vom Zeitpunkt der Registrierung bis zur Bewilligung der Leistungen nach SGB II vergehen in Berlin durchschnittlich sechs bis acht Monate. In dieser Zeit endet oft die Erstversorgung und damit auch der Aufenthalt im Krankenhaus.

Da nach der Beendigung der Erstversorgung der Patient nicht mehr im Krankenhaus bleiben kann, dieser aber noch nicht registriert und/oder im Leistungsbezug ist, kommt es in vielen Fällen dazu, dass man als Kriegsverletzter in das Ukraine Ankunftszentrum in Tegel (TXL-UA) zusammen mit fast 3.000 anderen Geflüchteten aus der Ukraine einquartiert wird.

Das Ankunftszentrum ist jedoch nicht als Dauerlösung für Menschen mit Behinderungen oder schweren Verletzungen konzipiert. Es ist nicht barrierefrei und verfügt über keine behindertengerechten Räume. Die aus dem Krankenhaus entlassenen kriegsverletzten Menschen haben schwere Operationen hinter sich, wie Bein- oder Armamputationen. Sie brauchen eine Nachversorgung, Reha-Maßnahmen, Prothesen, u.a., die erst die Genesung und die Teilhabe ermöglichen. Oft siedeln sich multiresistente Keime in die Wunden ein, was einer zusätzlichen langwierigen Behandlung bedarf. Alle Kriegsverletzte leiden unter einer starken Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die angespannte Situation und die Ungewissheit, ob und wann die medizinische Behandlung fortgeführt werden kann, führt zu einer Retraumatisierung.

Wir hoffen, dass diese Schilderungen Ihnen einen Überblick über die aktuellen Herausforderungen für ukrainische Kriegsverletzte in Berlin gegeben haben.

Bis heute unterstützen wir, eine kleine Gruppe von Ehrenamtlichen, kriegsverletzte Menschen aus der Ukraine in Berlin. Wir setzen uns für ihre Anliegen gegenüber verschiedenen Stellen auf der Bundes-, Landes- und Bezirksebene ein. Der enorme damit verbundene Aufwand ist jedoch neben einer Vollzeit-Beschäftigung oder der Kinderbetreuung und Deutschkurs auf Dauer nicht allein zu bewältigen.

Deswegen haben wir folgende Vorschläge formuliert und hoffen, dass Sie die Versorgung von ukrainischen Kriegsverletzten zu Ihrer Chef-Sache erklären und diese tapferen Menschen auf ihrem Weg zur Genesung unterstützen.

Unsere Vorschläge:

1. Wir brauchen Verfahrenserleichterungen für Kriegsverletzte aus der Ukraine bei der Registrierung und Beantragung diverser Leistungen. Diese Menschen sind aufgrund ihrer komplexen und schweren Verletzungen physisch nicht in der Lage, lange Wartezeiten in der Schlange zu bewältigen oder überhaupt persönlich zu erscheinen. Lange Bearbeitungszeiten bedeuten für die Kriegsverletzten das Aussetzen der Weiterbehandlung und das Verzögern ihrer Genesung. Beispielsweise könnte ein Team, das zentralisiert die Anträge für Kriegsverletzte, die über das Kleeblatt-Verfahren nach Berlin kommen, bearbeiten und damit die Verfahrensdauer verkürzen. Es wäre sehr hilfreich, wenn beispielsweise ein Sozialamt zentral für die Entgegennahme und Bearbeitung von Anträgen von Kriegsverletzten zuständig wäre. Oder spezielle Öffnungszeiten bei Sozialämtern und Jobcenter nur für die Anliegen von Kriegsverletzten, z.B. 1-2 Stunden pro Woche, würden die persönliche Vorsprache ohne lange Wartezeit ermöglichen.

2. Wir brauchen eine vereinfachte Beantragung der Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung für Kriegsverletzte noch während des Krankenhausaufenthalts und unmittelbarer Zugang zu den Leistungen wie Prothesierung unabhängig davon, wo die Personen angemeldet sind.

3. Wir brauchen eine verbindliche Einzelfall-Begleitung ab dem Zeitpunkt der Ankunft von Kriegsverletzten bei allen behördlichen Angelegenheiten wie der Registrierung nach § 24, der Beantragung der Sozialhilfe beim Sozialamt, der Beantragung der elektronischen Gesundheitskarte, der Beantragung des Pflegegrades und des Behinderungsgrades, bei der Suche nach einer geeigneten Unterkunft oder einem Platz im Pflegeheim, usw. Dafür brauchen wir ein Team von Hauptamtlichen oder Honorarkräften, die diese Aufgabe übernehmen und von einer koordinierenden Stelle begleitet werden. Dieses Team soll vom BMI eine Liste von allen Kriegsverletzten aus der Ukraine im Rahmen des Kleeblatt-Verfahrens erhalten, wo die Namen und die behandelnden Krankenhäuser aufgelistet sind, um pro-aktiv Kontakt aufnehmen zu können.

4. Wir brauchen eine Transfer-Unterkunft für pflegebedürftige Kriegsverletzte aus der Ukraine, wo sie nach ihrer Entlassung untergebracht und versorgt werden können. Alternativ oder gleichzeitig wäre es sinnvoll, eine koordinierende Stelle beispielsweise beim LAF einzurichten, die Kooperationen mit diversen Trägern in Berlin abschließt und damit eine Vielzahl von Unterbringungsmöglichkeiten für diese Personengruppe schafft.

5. Wir brauchen flexible und niedrigschwellige Angebote für psychotherapeutische und psychologische Unterstützung für Kriegsverletzte aus der Ukraine in ihrer Muttersprache. Dafür könnte man ukrainische Fachkräfte im Rahmen eines Pilotprojekts einstellen, die eine psychotherapeutische Beratung und Begleitung anbieten. Auch wenn diese Fachkräfte zum Zeitpunkt ihrer Einstellung noch nicht über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen, können sie eine unmittelbare psychologische Unterstützung für ukrainische Kriegsverletzte anbieten, die akut unter PTBS leiden. Wir wollen uns nochmal für Ihren Einsatz für die ukrainischen Kriegsverletzten bedanken. Wir hoffen, mit diesem Brief und unseren Vorschlägen dazu beizutragen, dass diese mutigen Menschen, die bereit waren, ihr Leben für ihre Heimat zu opfern, auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus begleitet und unterstützt werden.

Wir stehen Ihnen jederzeit für einen Austausch und bei Fragen zur Verfügung.

Freundliche Grüße

Ehrenamtliche für ukrainische Kriegsverletzte in Berlin:

Madeleine Koch
Eteliya Klementyeva
Lada Pleskach
Yana Rybalchenko
Olena Gräfe-Elefant
Sylvia Klein
Andrii Lavrenchuk
Kateryna Deryn-Kateryntchuk
Ivana Rudejchuk
Hanna Buinovska

Weitere Unterzeichner:

Allianz Ukrainischer Organisationen, darunter folgende Mitglieder und assoziierte Mitglieder:

Ukraine-Hilfe Berlin e.V.
CineMova. Ukrainian Film Community Berlin e. V.
Ukrainische Orthodoxe Kirchengemeinde e.V.
Plast Ukrainischer Pfadfinderbund in Berlin e.V.
Kul’tura e.V.
UkrDim e.V.
Ukrainisches Radio in Berlin e.V.i.G.
IWEK e.V. Initiative für Wissensaustausch, Empowerment und Kultur
Ukrainische Schule Berlin e.V.
Verein Positive Ukrainer*innen in Deutschland e.V. „PlusUkrDe“ e.V.
Opora e.V.i.G.
Kwitne Queer e.V.i.G.
Bund ukrainischer Studenten in Deutschland e.V.
Ukrainische Sozialdemokratische Plattform

Sowie Partner der Allianz Ukrainischer Organisationen und weitere Institutionen:

For the Right to Resist – Linke Ukraine Solidarität Berlin

Ukrainischer Verein Augsburg e.V.

Ukrainian Security and Cooperation Center 

Ukrainisches Koordinationszentrum Dresden

Vitsche e.V.

Die aktuelle Liste der Unterzeichner wird laufend aktualisiert und hier, auf der Webseite der Allianz Ukrainischer Organisationen, veröffentlicht. Fall Sie den Brief unterschreiben wollen, bitte schreiben Sie uns eine E-Mail auf [email protected].

Berlin, 15.06.2023

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *